Abstrakte Fotografie?

Feininger und die abstrakte Kunst

Aber wie geht ein „Gehirnmensch“ um mit einer Kunst – egal ob Malerei oder Fotografie – die nichts zeigt, was auch in der Realität zu sehen wäre. Kann ein solches Bild noch „Spiegelung des Lebens“ sein? Es wäre oberflächlich und kurzsichtig, diese Frage zu verneinen. Das Leben beschränkt sich ja nicht nur auf sichtbare Äußerlichkeiten. Menschen suchen seit jeher Sicherheit auch im Blick auf ihre Umwelt. Was geordnet ist, wird als sicher eingestuft, daher suchen wir in allem die Ordnung. Was eine gute Komposition (nach Feiningers Worten) so „außerordentlich befriedigend“ macht, ist das Erkennen der Ordnung darin.
Piet Mondrian: Komposition in Rot, Gelb, Blau und Schwarz (1922)Fotografen, die ihr Gefühl für Komposition entwickeln wollen, rät Feininger das Studium von guten abstrakten und halbabstrakten Gemälden. Er führt dabei Lyonel Feininger an, aber auch Franz Kline und Piet Mondrian. Mondrians Bild sei die Verkörperung eines dynamischen Gleichgewichtszustands. Es wirke ästhetisch befriedigend, weil es das Gefühl von Harmonie und Ausgewogenheit vermittle, welches hervorgerufen werde durch eine sorgfältige Komposition aus Waagrechten und Senkrechten mit genau gemessenen Abständen – betont durch Rechtecke in reinen Grundfarben. Franz Kline, ein Maler des abstrakten Expressionismus, hingegen zeigt ein Gefüge aus kühnen Pinselstrichen, die den Raum aufsplittern. Symbolisch für unsere Zeit sei die Anmutung von Gewalt und Willkür, die in dem Bild spürbar werde. Speziell in diesem Bild – wie auch in anderen Tuschezeichnungen von Franz Kline – sucht man die Ordnung wahrscheinlich vergebens. Aber vielleicht ist es hier das Fehlen der erkennbaren Ordnung, welches bedrückend und beklemmend wirkt. Wie auch Jackson Pollock ist Franz Kline ein Vertreter des Action Painting, welches ja darauf beruht, dass die Bildentstehung in einer Art ekstatischen „Aktion“ ausgeführt wird, welche in der Lage sein soll, eine psychische Verbindung zum generischen Gedächtnis herzustellen. Damit rückte das Bild wieder in die Nähe einer Ordnung. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass sich Andreas Feininger dieser Sichtweise hätte anschließen können. Allerdings habe nur ich in einem Erklärungsversuch von der Ordnung gesprochen. Feininger ist über die „gute Komposition“ hinaus nicht präziser geworden.
Neben den Malern führt Feininger auch zwei Fotografen an, die abstrakte Arbeiten vorlegen, nämlich Harry Callahan und Aaron Siskind. Über das Bild von Siskind schreibt er:

Obwohl es sich um eine reine Fotografie handelt, ist dieses Bild wesensmäßig verwandt mit der modernen abstrakten Kunst; es hat mit ihr ein Charakteristikum gemeinsam: Der Gegenstand ist völlig irrelevant, Gestaltung und Komposition sind bestimmend. Siskind, der wegen seiner Fotografien von mit abblätternder Farbe bedeckten Wänden berühmt wurde, ist möglicherweise der gestaltungsbewussteste Fotograf der Gegenwart.

Andreas Feininger: Kompositionskurs der Fotografie

Damit dürfte Feininger ein ganz wichtiges Faktum hinsichtlich abstrakter Fotografie ausgesprochen haben. Wir Fotografen sind ja nicht in der Lage, etwas zu fotografieren, was nicht da ist. Fotografie ist gebunden an Gegenständliches – im Gegensatz zur Malerei. Abstrakte Formen, deren Klang sich dem Gesamtklang der Komposition unterordnet, stehen uns nicht zur Verfügung. Wenn wir jedoch nur etwas Gegenständliches so fotografierten, dass es nicht mehr erkennbar wäre, so täuschten wir Abstraktion nur vor und wir blieben in einer äußerlichen Ähnlichkeit ohne „innere Notwendigkeit“ verfangen. Wenn wir aber einen Gegenstand so fotografierten, dass aus dem Bild deutlich erkennbar würde, dass nicht der Gegenstand selbst das Motiv sei, sondern dass dieses bloß auf die Art, wie er sich, ganz oder in Teilen, darbietet, reduziert sei, dann können wir von abstrakter Fotografie sprechen. Völlige Unkenntlichkeit wäre aber keine Voraussetzung dafür, solange sichergestellt ist, dass nicht der fotografierte Gegenstand selbst zu sehr zum Motiv wird.

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