Abstrakte Fotografie?

Wirklich große Kunst ist also in zeitgenössischen Werken nicht oder nur sehr schwer zu erkennen. Sie offenbart sich erst nach einem gewissen Zeitraum. Wir können da bestimmt von zwei bis drei Generationen ausgehen. Sehr unwahrscheinlich ist es also, dass ein zeitgenössischer Künstler, der großen Erfolg hat, diesen Erfolg auch noch bei unseren Nachkommen haben wird. Allerdings bestätigen Ausnahmen die Regel.
Mit dieser Überlegung beenden wir unseren Exkurs und verlassen Kandinsky vorläufig.

Feininger und die Komposition

Zu Beginn dieses Beitrags haben wir gelesen von Büchern über Bildgestaltung in der Fotografie. Und jetzt wenden wir uns einem Autor zu, der ein solches Buch geschrieben hat – eigentlich sogar mindestens zwei. Wieviele es wirklich sind, kann ich nicht sagen, weil sein Werk so umfangreich ist, dass ich es gar nicht – nicht einmal den Titeln nach – zur Gänze kenne. Andreas Feininger – so heißt der Autor – hat zeit seines Lebens um die fünfzig Bücher geschrieben, die allesamt die Fotografie zum Thema haben. Neben einigen Bildbänden finden sich darunter zum Großteil Lehrbücher zu fotografischen Themen. Feiningers früheste Veröffentlichungen dürften in den frühen Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhundert liegen – und die letzten wenige Jahre vor seinem Tod 1999. Man kann sagen, Feininger habe die Entwicklung der Fotografie über zwei Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts kommentiert und erklärt. In den Dreißigerjahren gab es für Amateure noch keine Farbfotografie und alle Kameras funktionierten rein mechanisch. Am Ende des Jahrhunderts jedoch stand bereits der Durchbruch der Digitalfotografie knapp bevor. Dazwischen liegt eine gewaltige technische Entwicklung, die niemand besser und ausführlicher beschrieben hat als Andreas Feininger. Der Schwerpunkt von Feiningers Lehren liegt eindeutig auf der technischen Seite der Fotografie und beinhaltet alles von der Aufnahmetechnik, von der Filmentwicklung bis zum Ausarbeiten von Papiervergrößerungen. Dennoch ist auch in den ausgewiesen „technischen“ Werken die Bildgestaltung ein Thema, welches zumindest angerissen wird. Aber es gibt auch, wie schon geschrieben, mindestens zwei Werke, die sich hauptsächlich der fotografischen Bildgestaltung widmen. Das erste Buch Fotografische Gestaltung ist bereits 1937 erschienen. Wir aber wollen uns dem zweiten Buch Principles of Composition in Photography widmen, dessen deutsche Übersetzung den Titel Kompositionskurs der Fotografie trägt. Darin wird allerdings weder auf Wassily Kandinsky noch auf Punkt und Linie zu Fläche Bezug genommen.
Eine gute Fotografie, so meint der Autor, brauche beides: Technik und Kunst. Das künstlerischste, sorgsamst gestaltete Bild verfehlt seine Wirkung, wenn es zu kurz oder zu lange belichtet ist, wenn es verwackelt ist, wenn die Schärfe nicht auf dem entscheidenden Punkt liegt oder wenn es einen Farbstich hat. Aber auch eine technisch hervorragende Aufnahme wird nicht wirken, wenn sie ihr Motiv bei ungünstiger Beleuchtung zeigt, wenn der Ausschnitt falsch gewählt ist oder wenn das Motiv abgedroschen ist. Die Technik ist, so Feininger weiter, relativ einfach zu beherrschen, denn sie lässt sich vollständig auf klare Fakten und Zahlen reduzieren. Aber Zahlen versagen angesichts der Aufgabe, die Kunst des Fotografierens hinreichend zu beschreiben. Er aber, Feininger, werde nicht weiter von Kunst sprechen, weil diese Bezeichnung vielschichtig und inhomogen verstanden werde. Den Begriff „Kunst“ werde er ersetzen durch „Komposition“, auch im Bewusstsein, dass hinsichtlich der Bedeutung beider Begriffe keine vollständige Deckung erreicht werden könne.

Die Bedeutung der Rolle, die die Komposition im Hinblick auf die Wirkung eines Fotos spielt, wird weiterhin durch die Tatsache illustriert, dass zwei Arten grafischer Gestaltung existieren – und nicht nur in der Fotografie, sondern auch in der Malerei –, die ihre Rechtfertigung allein der Komposition verdanken. Es handelt sich dabei um Stillleben und Abstraktionen – Kunstformen, deren „Lebensberechtigung“ allein darin besteht, durch gute Komposition ästhetischen Genuss und Befriedigung hervorzurufen. Vom Gegenständlichen her gesehen, sind Stillleben vielfach unglaublich langweilig. […] Und abstrakte Bilder stellen überhaupt keine erkennbaren Gegenstände dar. Was solche Studien möglicherweise interessant macht, ist die Art, in der sie komponiert sind. Ist diese akademisch und langweilig, dann sind meiner Meinung nach Stillleben und Abstraktionen die sinnlosesten aller Bildarten.

Andreas Feininger: Kompositionskurs der Fotografie

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