Abstrakte Fotografie?

Über Bildgestaltung in der Fotografie zu schreiben, ist sehr schwierig. Eine präzise Anleitung kann es nicht geben, denn diese, genauer gesagt, deren Befolgung, würde nur Stereotypen hervorbringen. Dennoch braucht es die Gestaltung, auch wenn die Aufnahme nicht als „künstlerisch“ angesehen werden soll, um das unmittelbare Erleben des Fotografen einigermaßen adäquat in eine zweidimensionale Abbildung zu übersetzen. Es braucht die Gestaltung etwa um das, was im Bild wichtig ist, deutlich zu machen und die Wirkung dessen, was unwichtig ist, möglichst hintanzuhalten. Das ist auch keine Verfälschung, sondern ein Ausgleich, weil dem Betrachter ja ein unmittelbares Erleben fehlt. Selbst wenn das Bild nur dokumentierenden oder informierenden Charakter hat, unterstützt gute Bildestaltung dabei, die Information leicht verständlich aufzubereiten.
Es gibt daher auch mehrere Bücher über fotografische Bildgestaltung, die sich eben nicht als konkrete Anleitung verstehen. Überraschenderweise beziehen sich mehrere Autoren dieser Werke auf eine Schrift von Wassily Kandinsky: Punkt und Linie zu Fläche. Kandinsky hat dieses Buch herausgegeben als den Versuch einer „Harmonielehre der Malerei“. Obwohl er als Zielgruppe Maler und angehende Maler im Sinn gehabt hat, bleibt jedoch die Wirkung, die visuelle Grundelemente hervorrufen, die gleiche, egal, ob diese nun auf einem Gemälde oder in einer Fotografie in Erscheinung treten.

Kandinsky und die innere Notwendigkeit

Wassily Kandinsky: Ohne Titel (ca. 1922)1926, als das Buch erschien, war Kandinsky Lehrer der „freien Malklasse“ am Bauhaus in Weimar. Und dieses Buch bildet die Grundlage seines Unterrichts. Es versucht, die Struktur und den Aufbau eines Bildes aus den inneren Zusammenhang seiner Teile zu beschreiben, beziehungsweise verständlich zu machen. Punkt und Linie zu Fläche ist aber nur der zweite Teil des Lehrwerks Kandinskys. Der erste Teil Über das Geistige in der Kunst ist bereits 1911 erschienen und stellt gleichsam die geistige Grundlage für Punkt und Linie zu Fläche dar. Es sind Überlegungen zur Stellung der Kunst in der Gesellschaft und auch zum Wesen der Kunst und des Künstlers.
Unter anderem beschreibt er, dass bei einem Betrachter beim Anblick einer farbigen Fläche eine Wirkung ausgelöst wird – und zwar zunächst und vordergründig eine physische Wirkung, die ähnlich der ist beim Genuss eines Leckerbissen oder beim Hören eines angenehmen Klangs. Die Wirkung lässt sofort nach, wenn der Leckerbissen geschluckt und der Klang verklungen ist. So verfliegt auch die Wirkung der Farbe, sobald sie nicht mehr vor Augen ist. Bei höherer (geistiger) Entwicklung des Betrachters stellt sich jedoch auch eine psychische Wirkung ein, welche die Seele anrührt und eine Empfindung auslöst. Wenn dieser Fall eintritt, dann wird die physische Wirkung zum Wegbereiter der psychischen. Die psychische Wirkung ist im Gegensatz zur physischen anhaltend und prägt sich ein. Je nach Farbe (und Form) sind die Empfindungen verschieden, die dadurch hervorgerufen werden. Der (malende) Künstler hat mit diesen Farben und Formen (die Kandinky als zweckentsprechend geformte Behälter der Farben sieht) ein Instrumentarium, um die Seele des Betrachters zu erreichen.

So ist es klar, dass die Farbenharmonie nur auf dem Prinzip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele ruhen muss.
Diese Basis soll als Prinzip der inneren Notwendigkeit bezeichnet werden.

Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst

Kandinsky beschreibt nun, dass „organische Formen“ (Formen, die etwas Konkretes, Materielles darstellen) mitunter einen „Klang“ haben, welcher mit dem Prinzip der inneren Notwendigkeit im Einklang ist – oder diesem aber entgegensteht. Der Künstler hat aber der inneren Notwendigkeit zu folgen und muss sowohl die Komposition des gesamten Bildes hervorbringen, wie auch die Formen schaffen, aus welchen diese Komposition sich zusammensetzt. Der Eigenklang dieser einzelnen Formen muss sich dem Gesamtklang jedoch unterordnen. Geeignete Formen müssen vom Künstler bedacht und gewählt werden. Zwar können diese organisch sein, aber sie können auch „abstrakt“ sein, (d.h. keinen konkreten Gegenstand darstellen). Da abstrakte Formen an nichts Materielles gebunden sind, können sie leicht zweckentsprechend (d.h. dem Zweck des Gesamtklangs der Komposition entsprechend) geschaffen werden.

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