Krieg und Kunstgeschichte

Das Bild

An diesem Punkt der Überlegungen muss einsichtig werden, dass es nicht nur darauf ankommt, was die Bilder darstellen, sondern auch, wie sie es darstellen. Angesichts der Tatsache, dass das Bild – verglichen mit anderen – die Brutalität des Krieges nicht direkt und unverhohlen darstellt, wäre der Art der Darstellung sogar noch größere Bedeutung zuzuschreiben als dem dargestellten Inhalt. Der Betrachter muss das Bild „lesen“ – er muss interpretieren. Dazu muss er sich auf das Bild einlassen. Das geschieht beinahe zwanghaft. Es scheint unmöglich, die Zeitung oder das Magazin angesichts dieses Bildes einfach weiterzublättern: Alles auf dem Bild bezieht den Betrachter unmittelbar ins Geschehen ein. Der Ort des Betrachters im Off ist genau der Ort, auf welchen sich alles zuzubewegen scheint – vor allem die Gruppe von Kindern, die weinend und schreiend auf den Betrachter zuläuft oder an ihm vorbeizulaufen scheint. Diesen Eindruck vermittelt der Junge links im Vordergrund, dessen Beine schon den Bildraum im Vordergrund verlassen haben. Obwohl der Intellekt sagt, dass es nicht so sei, fühlt der Betrachter sich emotional versetzt auf diese Landstraße vor dem Dorf Trảng Bàng und unmittelbar konfrontiert mit dieser Gruppe schreiender Kinder, die in Panik auf ihn zuläuft. Es gibt weder optisch noch emotional eine Barriere, die dem Betrachter die Chance gäbe, Distanz zu wahren zu den Ereignissen, die das Bild zeigt. Diese unmittelbare und unausweichliche Ansprache des Betrachters zwingt diesen förmlich zur Stellungnahme.
Anders wirkt in dieser Hinsicht die Fotografie von Eddie Adams vom Februar 1968, welche die Hinrichtung eines gefangenen Vietkong zeigt. Trotzdem hier die Brutalität und Grausamkeit des Krieges noch viel unverhohlener zutage tritt, fällt es dem Betrachter leichter, Distanz zu wahren zum Geschehen im Bild. Die Protagonisten werden nur mit ihrer oberen Körperhälfte gezeigt. Somit stellt der untere Bildrand eine trennende Barriere dar zwischen dem Betrachter und dem Bild. Dieser findet daher eher die Möglichkeit, auch emotional die Rolle des Unbeteiligten einzunehmen.

Die Gebärdefigur

Zweifellos kommt dem nackten Mädchen, der damals neunjährigen Kim Phúc, nicht nur eine zentrale, sondern auch eine besondere Rolle in Nick Úts Bild zu. Sie tritt auf als sogenannte Gebärdefigur,

… eine einzelne Person oder eine Personengruppe, deren gesamte Gebärde – Körperhaltung, Gestik und Mimik – von einem Affekt geprägt ist und ein existenzielles Gefühl zum Ausdruck bringt. Dabei scheint sich der ganze Körper der Person dem Betrachter mitzuteilen.

Gerhard Paul: Die Geschichte hinter dem Foto, in: Zeithistorische Forschungen 2/2005

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