Ecce Homo

Helen Levitt: In the StreetTrotzdem Helen Levitt schon 1943 eine erste Einzelausstellung im Museum of Modern Art hat, kann sie auf Dauer nicht von der Straßenfotografie leben. Bekannte vermitteln sie zum Film. Für Luis Buñuel arbeitet sie als Cutterin, beginnt aber schon bald selbst Filme zu machen. Zusammen mit Janice Loeb und James Agee dreht sie den Experimentalfilm In The Street, der in bewegten Bildern ganz ähnliche Szenen zeigt wie zuvor Levitts Straßenfotografie. Der kurze Streifen gilt mancherorts als erster Experimentalfilm überhaupt und fand wertschätzende Beachtung. Auch Charlie Chaplin fand lobende Worte für den Film. The Quiet One nennt sich Levitts zweiter Versuch als Filmemacherin und erzählt die Geschichte eines afroamerikanischen Jungen mit schweren Persönlichkeitsstörungen, der in einer Sonderschule in New York geschickt wird, um dort an einem Rehabilitationsprogramm teilzunehmen. Anders als bei In The Street gibt es hier ein Drehbuch (an welchem auch Levitt, Loeb und Agee mitarbeiten). Janice Loeb tritt als Produzentin und, wie gesagt, als Drehbuchautorin und auch als Kamerafrau in Aktion. Für die dokumentarischen Teile ist sie zusammen mit Helen Levitt zuständig. Die Filmmusik stammt von Ulysses Kay und Regie führt Sidney Meyers (der ebenfalls am Drehbuch mitschreibt und auch für den Schnitt verantwortlich ist).
Auch dieser Film findet viel Beachtung: Sidney Meyers gewann damit 1949 bei den Filmfestspielen von Venedig den International Award und wurde für den Goldenen Löwen nominiert. Zudem wurde der Film 1949 in der Kategorie Bester Dokumentarfilm für den Oskar nominiert und im Jahr darauf Meyers, Loeb und Levitt in der Kategorie Bestes Originaldrehbuch. In beiden Fällen blieb es bei den Nominierungen.
Helen Levitt 1913−2009Trotz dieser unbestreitbaren Erfolge scheint Helen Levitt die Teamarbeit nicht sonderlich zu behagen und sie kehrt anfangs der Fünfzigerjahre zum Fotografieren zurück in die Vorstädte New Yorks. Diesmal hat sie jedoch ihre Leica mit Farbfilm bestückt. Oberflächlich gesehen setzt sie das fort, was sie zugunsten der Filmerei unterbrochen hatte. Aber es hat sich manches geändert. Ihre Bilder wirken statischer. Zum einen liegt das an der geringen Empfindlichkeit der Farbfilme, die längere Belichtungszeiten erfordert und daher für schnelle, dynamische Szenen weniger geeignet ist. Zum anderen hat sich auch das Leben auf der Straße verändert. Die Unbekümmertheit früherer Jahre ist verschwunden und die Menschen leben zurückgezogener. Als Helen Levitt zu Beginn der Achtzigerjahre sich teilweise wieder der Schwarzweißfotografie zuwendet, ist sie eine Wegbereiterin der New Color Photography geworden.

Neuinterpretation

Hunderte Fotografen haben Menschen in ihrem Alltag fotografiert und sind damit bekannt geworden. Es mögen Hunderttausende oder gar Millionen sein, die ebenso fotografieren und von denen keine Ausstellung und keine Publikation erzählt. Auf die erste Gruppe konnten wir hier wenigstens einen Spot richten und müssen hoffen, dass dieser wenigstens einigermaßen repräsentativ für die gesamte Gruppe ist. Von der zweiten Gruppe wissen wir gar nichts.
Kein Motiv übt auf den Betrachter einen derart starken Reiz aus wie das Bild eines Menschen. Erkennen wir im Abbild eines Menschen in unserem tiefsten Inneren einen Artgenossen, auf den wir reagieren sollten? Oder suchen wir die schon angesprochene Essenz des Menschseins, um uns selbst im Anderen zu erkennen? Das erstere ließe sich mit Reaktionsmustern erklären, die wir schon in der Altsteinzeit erlernt haben könnten. Das andere wäre beinahe eine mystische Erfahrung. Und doch ist es so, dass das Schicksal eines Menschen, von welchem wir hören, lesen oder welches wir in Bildern sehen, uns erkennen lässt, dass dieses Schicksal auch uns selbst widerfahren könnte.
Nancy Borowick: Cancer Family, OngoingDie junge Fotografin Nancy Borowick hat eine sehr berührende, einerseits bedrückende aber andererseits auch tröstliche Bildserie gestaltet. Sie hat – auch fotografisch – ihre Eltern, die beide an Krebs erkrankt waren, in ihrer letzten Lebenszeit begleitet. Das Ergebnis ist das Fotoprojekt The Family Imprint. Man muss die Bilder sehen, adäquat beschreiben lassen sie sich nicht. Sie selbst sagt darüber, dass die Geschichte eher von Leben und Liebe handelt, als von Krebs und Tod. Auf ihrer Website wird sie als „humanitarian photographer“ bezeichnet. Diese Charakterisierung bezieht auch ein starkes Engagement für humanitäre Projekte mit ein, die Nancy Borowick parallel zu ihrer fotografischen Arbeit betreibt. Auch ohne ihr soziales Engagement könnten wir in ihr einen jungen Fotografentypus sehen, der die humanistische Fotografie für sich neu interpretiert.

Ausstellung: Bruce Davidson
Ort: Galerie Westlicht Wien
Künstler/In: Bruce Davidson
Kurator/In: –
Zeit: 15. Juni 2017 bis 13. August 2017

Ausstellung: Helen Levitt
Ort: Albertina Wien
Künstler/In: Helen Levitt
Kurator/In: Dr. Walter Moser
Zeit: 12. Oktober 2018 bis 27. Jänner 2019

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