Ecce Homo

Das Fotoessay war und blieb auch lange Zeit das bevorzugte Ausdrucksmittel von Bruce Davidson. Schon früher war er mit kleineren Essays aufgefallen und in ähnlicher Weise dokumentiert er nach Beendigung seines Militärdienstes in The Dwarf den Alltag eines Kleinwüchsigen, der als Zirkusclown arbeitet. Brooklyn Gang porträtiert eine New Yorker Streetgang von Jugendlichen, aber nicht so, wie diese sich selbst gerne gesehen hätten – als die Herren der Straße; sondern so, wie sie sich geben, wenn sie unter sich sind, wenn sie mit ihren Mädchen in einem Lokal oder am Strand herumhängen und wenn sich die Gefühle der Langeweile, der Frustration und der Zukunftslosigkeit nicht hinter einer Kämpfermaske verbergen lassen. Elf Monate ist Davidson mit den Jugendlichen durch die Straßen gezogen, hat mit ihnen gegessen und getrunken und ist dabei beinahe zu einem Mitglied der Gang geworden. Aus dieser Selbsterfahrung der Lebensumstände seiner Protagonisten schöpft er die Fähigkeit, diese auch angemessen in seinen Bildern wiederzugeben. In diesen frühen Essays Davidsons ist der humanistische Ansatz nahezu kompromisslos umgesetzt.
Später, als anerkannter Magnum-Fotograf, hält Davidson diesen Ansatz nicht mehr so konsequent durch, ohne ihn jedoch jemals völlig aufzugeben. Eine seiner bekanntesten Serien, Selma, beschäftigt sich mit einem (damals – 1965) aktuellen politischen Thema – und tendiert daher eher zum Fotojournalismus: In der Kleinstadt Selma im Bundesstaat Alabama (sowie in anderen Teilen der Südstaaten) ist vielen Afroamerikanern entgegen gesetzlicher Bestimmungen die Eintragung ins Wählerregister verweigert worden. Zunächst gibt es Proteste vor dem Verwaltungsgebäude, in welchem die Wählerlisten geführt werden. Als im Zuge dieser Demonstrationen ein junger Schwarzer von Ordnungskräften erschossen wird, beschließen die Demonstranten, ihren Protest auszudrücken durch einen Fußmarsch in die Hauptstadt Alabamas, Montgomery. Zwar wird der Marsch schon beim Verlassen der Stadt von der Polizei gewaltsam beendet, aber das Problem der Demonstranten gelangt der Öffentlichkeit zu Bewusstsein, weil sowohl das Fernsehen als auch Vertreter der Printmedien vor Ort sind und darüber berichten.
Das hat zur Folge, dass sich Tausende Demonstranten den Bewohnern von Selma anschließen; unter ihnen auch der Friedensnobelpreisträger Martin Luther King. Bemerkenswert scheint, dass auch viele Weiße, vor allem Jugendliche und Geistliche, sich mit den Protestierenden solidarisch zeigen. Es kommt zu einem zweiten Versuch, den Protestmarsch mit Martin Luther King an der Spitze durchzuführen. Diesmal wird der Aufbruch zwar auch von der Polizei beobachtet, aber niemand greift ein. Am Stadtrand aber kehrt Martin Luther King, dem zuvor ein gerichtlicher Unterlassungsbescheid zugestellt worden ist, nach einem kurzen Gebet um, um niemand zu provozieren.
Im dritten Anlauf gelingt der Marsch, an dem mehr 25 000 Menschen teilnehmen (gegenüber etwa 300 beim ersten Versuch). Militär und Polizeikräfte bilden diesmal den Geleitschutz und sorgen für einen sicheren Ablauf.
Diesen dritten Marsch dürfte Bruce Davidson mit seiner Kamera begleitet haben. Das legen die Bilder in der Ausstellung genauso nahe wie die Bilder, zu denen der folgende Link auf Magnum Photos führt. Es gibt keine Gewaltszenen zu sehen, die Bilder zeigen Szenen aus dem Demonstrationszug ebenso wie einzelne Teilnehmer. Es geht hier nicht mehr um ein einzelnes Individuum, auch nicht um eine kleine Gruppe, sondern um ein gesellschaftspolitisches Ereignis. Die einzelnen Porträts sind wie Spotlights, repräsentativ für die Masse, herausgepickt – nicht wochenlang begleitet und beobachtet.

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