Krieg und Kunstgeschichte

Das Bild des Tages

Dennoch hat Nick Út später erklärt, dass er sofort das Gefühl hatte, das Bild des Tages geschossen zu haben. Das Bild scheint etwas zu haben, was über alle geografischen, zeitlichen und kulturellen Grenzen hinweg „funktioniert“, d. h. auf das Gemüt des Betrachters wirkt – und zwar weltweit und auch gegenüber tausendfacher Konkurrenz. Einige Aspekte dieser Wirkung haben wir hier vielleicht angedeutet. Die Gesamtheit der Wirkung in ihrer Komplexität ist wahrscheinlich in Worten nicht darstellbar. Der Fotograf aber mag sie im Augenblick der Aufnahme erkannt – oder eher erahnt – haben; nicht in diesem analytischen Ansatz, von welchem wir hier ausgegangenen sind, sondern in einer blitzartigen kompakten und undifferenzierten Eingebung, die ihm erkennen ließ, dass er das Bild des Tages geschossen hätte.
Dennoch war das „Bild des Tages“ mit dem Betätigen des Auslösers noch nicht fertig. Zusammen mit seinem Redakteur Horst Faas von Associates Press legte Nick Út am Abend des Tages noch vor der Veröffentlichung den Beschnitt des Bildes neu fest. Auf dem originalen Bild sieht man am rechten Bildrand eine Figur, welche auf die ganze Szene ein neues Licht wirft. Die männlichen Figuren sind nämlich keine Soldaten, wie es den Anschein hat, sondern Bildreporter, die der flüchtenden Gruppe begegnen. So wie Nick Út wollten auch andere Bilder für ihre Agenturen und Medien schießen. Dass die Reporter in Uniform, und vor allem mit Stahlhelm, auftraten, war wahrscheinlich praktischen Überlegungen geschuldet. Bei der Figur rechts im Bild handelt es sich also um einen amerikanischen Reporter, David Burnett, der mit der Gruppe der Flüchtenden mitläuft und dabei den Film in seiner Kamera wechselt, um möglichst schnell noch zu einigen eindrucksvollen Bildern zu kommen.
Diese Sicht auf die Situation lässt die Rolle der Medien darin in einem ungünstigen Licht erscheinen. Alle waren darauf erpicht, ihre Bilder zu machen, statt den Flüchtenden sofort Hilfe zukommen zu lassen. Erst als die Filme voll waren, kümmerten sie sich um die Verwundeten. Nachdem nun durch den Beschnitt dieser Eindruck auf dem Bild vermieden wurde, konnte es in der Veröffentlichung seine weltweite Wirkung entfalten.

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