Krieg und Kunstgeschichte

Dieses existenzielle Gefühl ist zweifellos Angst. Kennt man die Hintergründe der Geschehnisse, so muss auch Schmerz eine große Rolle gespielt haben, denn Kim Phúc hatte ja schwerste Verbrennungen. Aber dennoch scheint die Angst das vorherrschende Gefühl zu sein, das hier zum Ausdruck gebracht wird, vor allem durch das Mädchen im Bildzentrum und verdoppelt im Gesicht des Jungen links im Vordergrund. Die Nacktheit der zentralen Figur und ihr magerer Körper unterstreicht zudem ihre Verletzlichkeit.
Raffael: Der betlehemische Kindermord, (Kupferstich von Marcantonio Raimondi)Obwohl es sich hier um eine im Augenblick entstandene Pressefotografie handelt, wollen wir Vergleiche auch mit anderen Bildern zulassen, mit solchen, die üblicherweise im kunsthistorischen Kontext betrachtet werden. Damit steht auch das Instrumentarium der Kunstgeschichte für die Bildanalyse zur Verfügung.
Die appelative Wirkung einer zentralen Figur, die sich direkt auf den Betrachter zubewegt, finden wir etwa auch in Der betlehemische Kindermord von Raffael. Trotzdem in Nick Úts Bild die Protagonisten weder der Vorstellung eines Malers entspringen, noch Modelle sind, die für eine Bildkomposition posieren, sondern reale, leidende und angsterfüllte Menschen, fügen sie sich in der Aufnahme zu einer Komposition, die im Gesamten oder auch in Teilen Entsprechungen findet in der Tradition bildhaften Ausdrucks. Der Betrachter kann zwar wohl unterscheiden zwischen der gedachten Welt des Kupferstichs und der fürchterlichen Wirklichkeit der fotografischen Aufnahme, aber gerade bei dieser wirkt die formale Matrix einer „klassischen“ Bildkomposition als Katalysator der konkreten Botschaft.
Jacques Louis David: Der Raub der Sabinerinnen, 1799Die Wirkung einer zentralen Figur lässt sich auch ablesen am Raub der Sabinerinnen, einem Gemälde von Jacques Louis David. In der zentralen Frauenfigur tritt der Appell an den Betrachter noch stärker in den Vordergrund als in der Person aus Raffaels Werk. Ähnlich wie in Davids Gemälde scheint sich auch in Nick Úts Bild alles auf die zentrale Figur zu beziehen. Alle anderen Teile der Szenerie verstärken entweder den Affekt der Gebärdefigur oder sie machen dessen Ursache plausibel. Terror of War lässt sich horizontal gliedern in zwei Bereiche. Der untere, helle Bereich, der etwa zwei Drittel des Bildes einnimmt, ist der Bereich der angsterfüllten, fliehenden Kinder und im oberen, dunklen Bereich ist die Ursache der Angst zu suchen. Diesem Bildteil sind auch die ebenfalls dunkel wirkenden Soldaten im Mittelgrund zuzuordnen. Ihre Gestalten ragen, anders als die der Kinder, in den Bedrohungsbereich hinein und scheinen dadurch die Bedrohung in den vorderen Bereich hineinzutragen, wodurch sie als verfolgende „Täter“ wirken. Das entspricht jedoch nicht dem tatsächlichen Sachverhalt; es handelt sich um südvietnamesische Soldaten, die selbst auf der Flucht sind vor den Luftangriffen. Wenn die genauen Umstände nicht bekannt waren, sind die Soldaten auch gelegentlich interpretiert worden als Amerikaner, welche die Dorfbewohner vertreiben. Besonders in der Anti-Kriegs-Bewegung in den Vereinigten Staaten war diese Interpretation vorherrschend.

Der Schrei

Eine Gebärdefigur finden wir auch in einem Gemälde, das zu den bekanntesten der Welt gehört, nämlich in Der Schrei von Edvard Munch.

Ich ging mit zwei Freunden die Straße entlang – die Sonne ging unter – und fühlte eine Böe der Melancholie – plötzlich wurde der Himmel blutig rot. Ich blieb stehen, lehnte mich an das Geländer, müde bis zum Tod, als der brennende Himmel wie Blut und Schwert über dem blauschwarzen Fjord und der Stadt hin. Meine Freunde gingen weiter und da stand ich und zitterte vor Angst – und ich fühlte einen riesigen unendlichen Schrei durch die Natur.

Edvard Munch: Tagebuch vom 22. Jänner 1892

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