Ecce Homo

Und der Mensch heißt Mensch, weil er vergisst, weil er verdrängt und weil er schwärmt und stählt, weil er wärmt, wenn er erzählt, und weil er lacht, weil er lebt …

Herbert Grönemeyer

Aufgefallen ist mir der Ausdruck „humanistische Fotografie“ 2017 in einer Ausstellung der Bilder von Bruce Davidson in der Wiener Galerie Westlicht. Lange Zeit konnte ich Davidsons Bilder nicht zusammenbringen mit dem Humanismus als Geisteshaltung, wie sie in der frühen Neuzeit entstanden ist. Diese Geisteshaltung beruft sich auf vermeintliche Vorbilder in der Antike, die abzielen auf die Verwirklichung des Ideals eines Menschen, der seine wahre Bestimmung erkennt durch Wissen und Tugend. Dieses Lebenskonzept sollte das vorherrschende mittelalterliche Bild ersetzen, das den Menschen sieht als machtloses Wesen, das nur abhängig ist von der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes und seiner weltlichen Herren.
Die humanistische Fotografie hat nicht viel mehr als den Namen mit dieser Geisteshaltung gemein. Es geht zwar wohl um Menschen – wie in vielen anderen fotografischen Sparten auch – aber von diesen Sparten lässt sich die humanistische Fotografie zunächst wie folgt abgrenzen:

Humanistische Fotografie ist eine französische Bewegung von Fotografen, deren fotografisches Interesse den Menschen in ihrem Alltagsleben gilt.

Henri Cartier-Bresson


Gemeint sind damit gewöhnliche Menschen, keine Superreichen, keine Mächtigen und Berühmtheiten. Aber träfe diese Definition nicht auch für „street photography“ zu? Auf den ersten Blick wohl, aber es gibt dennoch einen grundlegenden Unterschied, und zwar im emotionalen Zugang des Fotografen zu seinen Motiven. Der Straßenfotograf pickt sein Motiv spontan aus der Menge und im nächsten Moment ist er schon wieder auf der Suche nach einem weiteren Opfer. Fotograf und Motiv sind einander nur für einen Augenblick begegnet als Fremde. Das Interesse des Fotografen an seinem Motiv ist beschränkt auf diesen Augenblick.
Das Interesse des humanistischen Fotografen ist auf den Menschen als ganzheitliches Wesen gerichtet, nicht auf seine Augenblicksmanifestation. Die Lebensumstände und die Umwelt haben in der humanistischen Fotografie die gleiche Bedeutung wie der Mensch selbst. Der humanistische Fotograf sucht stets, jene Umstände fotografisch zu erfassen, welche den Menschen menschlich machen. Also soll der Mensch nicht gezeigt werden in den absoluten Höhen oder Tiefen seines Daseins, sondern in den gewöhnlichsten Alltagssituationen. Wenn wir – als Betrachter der Bilder – uns selbst in solchen Darstellungen in unserem tiefsten Wesen wiedererkennen, dann ist es dem Fotografen wohl gelungen, den Essenz des Menschseins abzubilden.

Das Paris des Robert Doisneau

Robert Doisneau: Das Auge von ParisCartier-Bresson hat die humanistische Fotografie eine „französische Bewegung“ genannt – und tatsächlich scheint diese Art zu fotografieren von Frankreich in den Nachkriegsjahren auszugehen. Wie in vielen Teilen Europas war auch in Frankreich das Leben in den späten Vierzigerjahren hart – trotzdem der Krieg überstanden war. In dieser Zeit war in Paris ein Fotograf unterwegs, der in den Straßen nach den Zeichen des Menschseins hinter der Maske des Harms in den Gesichtern suchte. Sein Name war Robert Doisneau. Beinahe zum Logo für die humanistische Fotografie ist sein Bild des küssenden Paars vor dem Rathaus von Paris geworden. Er selbst wird geradezu als Begründer der humanistischen Fotografie angesehen. Trotzdem wirken seine Bilder nicht wesentlich anders als Streetfotografie. Das eben entworfene Ideal von der Darstellung des Menschen im Menschsein wird nur von einzelnen Bildern erfüllt. Manche Bilder sind heiter, manche skurill bis komisch und etliche scheinen bloß zu dokumentieren. Doch keines zeigt Menschen in herabwürdigender Weise.
Es war gerade eben relativ einfach, Straßenfotografie von humanistischer Fotografie theoretisch abzugrenzen, aber offenbar hält diese Abgrenzung nicht unbedingt vor den Bildern, wenn sie der einen oder der anderen Richtung zugeschrieben werden sollen. Sie hält wahrscheinlich auch nicht vor dem Fotografen selbst, der sich ja auch nicht als der einen oder der anderen Richtung zugehörig begreift. In erster Linie wird er sich wohl seiner Art zu fotografieren und seiner Art, die Welt und die Menschen zu sehen, verbunden fühlen. Die Grenze zwischen den fotografischen Auffassungen geht daher oftmals durch das Werk auch eines einzigen Fotografen.
Doch, trotz Cartier-Bressons Aussage, ist die humanistische Fotografie nicht auf Frankreich beschränkt, obwohl sie wahrscheinlich in Paris ihren Ursprung hatte. Aber bald verbreitete sie sich auch über die benachbarten ehemals besetzten Gebiete wie Belgien und die Niederlande – und über kurz oder lang war sie auch in den Vereinigten Staaten angekommen.

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