Die Kunst des Weglassens

Tatsächlich hat der Kreisumfang zwar eine bestimmte Länge (die sich jedoch dank der Zahl Π auch nicht mit allerletzter Genauigkeit ermitteln lässt), aber weder Anfang noch Ende. Sehen wir jedoch nur einen Teil des Kreises, so beginnt sein Umfang dort, wo er in unser Gesichtsfeld eintritt und endet dort, wo er es wieder verlässt und der Zauber des Nirgends-Endens ist mit Hilfe eines Ausschnitts gebrochen. Wir stehen vor dem Unvollkommenen – unserem Schicksal.
Aber ist der Kreis unvollkommen? Nein – unvollkommen ist nur unsere Wahrnehmung desselben, denn das Bild zeigt uns nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit. So ist die Wahrnehmung des angeschnittenen Kreises nur ein Schritt auf der Suche nach der Vollkommenheit. Wir haben die vollkommene Form bereits gefunden, aber wir sind nicht fähig, ihre Vollkommenheit wahrzunehmen. Ein weiterer Schritt führt in die falsche Richtung: Die schwarze Stütze ist nicht geeignet, die Vollkommenheit in unsere Wahrnehmungssphäre zu rücken.
Doch dann taucht plötzlich ein vollständiger Kreis auf, doch nicht in der erwarteten Gestalt. Das eigentliche Objekt unseres Suchens, der rotorange, gemalte Kreis ist immer noch angeschnitten. Doch der in die Wand gravierte, kleine Kreis offenbart die Idee des Eigentlichen. Was wir auf dem letzten Bild sehen, bedarf nun keiner Erläuterung mehr – es ist die Auflösung, die Erfüllung der in diesem Tableau dargestellten Suche nach dem Vollkommenen.
Damit könnte man diese Betrachtung abschließen und sich am Anblick der vollkommenen Form weiden.
Mir aber sind noch einige Überlegungen im Sinn, die ich an dieser Stelle anhängen möchte: Vollkommen ist das, dem nichts mehr hinzugefügt und nichts mehr entnommen werden kann. Will das Vollkommene vollkommen bleiben, dann muss es also bleiben, wie es ist. Es ist statisch, mehr noch – erstarrt.
Gibt es daher etwas Langweiligeres als das Vollkommene?
Oder – nicht ganz so provokant gefragt – ist es nicht wohl eingerichtet, dass wir immer nach Vervollkommnung streben müssen, ohne dieses Ziel je erreichen zu können?

Zu Beginn dieses Beitrags habe ich versucht, Minimal Art zu erklären mit dem Zustand, in welchem nichts mehr weggelassen oder vereinfacht werden kann, ohne das Werk in seiner Aussage zu verändern. Ganz ähnlich habe ich in eben zitierter Interpretation – etliche Jahre zuvor – den Zustand des Vollkommenen beschrieben, damals überhaupt nicht in Hinblick auf Minimalismus. Doch jetzt hätte ich damit gedanklich eine Brücke geschlagen zwischen Minimalismus und Vollkommenheit. Aber ich habe auch den Wert der Vollkommenheit in Frage gestellt, indem ich ihr Erstarrung nachgesagt – und allerdings hinzugefügt habe, dass wir Menschen ohnehin nicht in der Lage seien, Vollkommenes zu schaffen. Ich lasse dieses Spannungsfeld zwischen Minimalismus, Vollkommenheit, Erstarrung und Unerreichbarkeit so stehen – zum Nachdenken darüber oder zum Diskutieren.
Dennoch möchte ich dazu noch eine kurze Anmerkung deponieren, die aus meiner eigenen fotografischen Erfahrung stammt. Vor vielen Jahren steckte ich fotografisch in einer Phase, in welcher mir die Brennweiten gar nicht lang genug sein konnten. Mit Teleobjektiven oder vielmehr Telezooms habe ich die Ausschnitte immer enger werden lassen und war so fasziniert von diesen immer engeren Ausschnitten, dass ich längere Zeit gar nicht bemerkt habe, dass die daraus resultierenden Bilder, die gelegentlich nur noch ein winziges Mauerdetail zeigten, gar keine Kraft, kein Leben mehr hatten. Als ich dann endlich rückschauend dieses Defizit bemerkte, nannte ich diesen Zustand „totgezoomt“ – und begann, mich (auch) mit Weitwinkelfotografie zu beschäftigen. Der Ausdruck „totgezoomt“ ist eher symbolisch zu verstehen und bedeutet nicht unbedingt, dass die Bildausschnitte durch Zoomen zu eng geraten sind.
Mauerdetails zeigt auch Martin Lüpkes‘ eben vorgestellte Bildserie, aber deren Bilder sind – trotz knappem Ausschnitt – nicht tot. Auch einzeln betrachtet haben alle (außer dem letzten) auf unterschiedliche Weise Kraft und Spannung. Das letzte Bild mit kreis ruht in sich als plausibler Endpunkt einer über drei Stufen gehenden dynamischen Veränderung und ist daher notwendiger Bestandteil der Bildserie.

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