Der distanzierte Blick

Fotografieren im Römischen Reich

Aber auch das Konzept des Zyklus „Imperium Romanum“, welches sicher von Seiland selbst stammt, ist durchaus interessant. Fotografiert werden verschiedene Stätten in Europa und im Nahen Osten, die einst Teil des römischen Weltreichs waren. Immer sind auch die Relikte römischer Herrschaft zu sehen. Diese werden jedoch nicht herausgelöst aus unserer Gegenwart, sondern im zeitgenössischen Kontext dargestellt zusammen mit allen Artefakten, welche die letzten zweitausend Jahre der Szenerie hinzugefügt haben. Doch der Fotograf scheint nicht Stellung zu nehmen zu seinem Motiv. Der Betrachter soll sich selbst ein Urteil bilden, so meint Seiland dazu. Soweit es mich betrifft – ich bilde mir mein Urteil ohnehin, aber als Grundlage dafür wäre mir ein Bild lieber, welches auch die Sichtweise des Fotografen zeigt.
Die Bilder etwa, die man von der Klagemauer in Jerusalem kennt, zeigen meist die Andächtigen, die vor der Mauer ihre Rituale verrichten. Es gibt eine Vielzahl solcher Bilder. Im folgenden Link sei nur ein Beispiel gezeigt, und zwar hier. Das Bild selbst will ich in keiner Weise werten, aber darauf hinweisen, dass man klar erkennt, was der Fotograf darstellen wollte. Die Andächtigen sind ein naheliegender Aspekt des Themas, doch es könnte auch ein anderer sein. Darauf kommt es nicht an. Aber dass ein Aspekt Auskunft über die Darstellungsabsicht gibt, hilft dem Betrachter ungemein, Zugang zu dem Bild zu finden. Erst wenn das gelingt, kann sich auch der Betrachter ein Urteil bilden. Doch das macht Alfred Seiland dem Betrachter schwer. Diesen Umstand will ich plausibel machen mit Seilands Sicht der Klagemauer über den Link hier. Unschwer zu erkennen ist, dass nicht nur die Anlage um die Klagemauer gezeigt wird, sondern der gesamte Tempelberg. Wenn man weiß, was dargestellt wird, dann kann man sich wohl darin orientieren: Man sieht die Zäune, die gesicherten Zugänge zur Mauer; man sieht eine Menge Uniformierte als Sicherheitspersonal, die angrenzenden Gebäude und im Hintergrund rechts die Al-Aqsa-Moschee und links den Felsendom. Die Klagemauer selbst ist ein Detail unter vielen im Bild, obwohl sie doch recht prominent in die Mitte gesetzt wurde. Die Ansicht wirkt auch plausibel unter dem Aspekt, dass der Fotograf dem Betrachter das Urteil überlassen will. Mir jedoch scheint es, dass Seiland mit dieser Haltung das Motiv, welches er sich gewählt hat, nicht interpretiert, sondern bloß dokumentiert. Wüsste man nicht, was dargestellt wird, so könnte man mit dem Bild wohl sehr wenig anfangen. Doch es mag mein übertriebener Purismus sein, zu fordern, dass ein Bild auch ohne Hintergrundwissen beim Betrachter etwas auslösen soll, wenn es sich nicht darauf beschränken will, bloße Dokumentation zu sein. Es ist auch gewiss anders zu sehen, wenn man es nicht für sich, sondern als Teil des gesamten Zyklus betrachtet. Auszüge daraus sind zu sehen über den Link hier. Es sind nicht alle Bilder von der gleichen Überblicksqualität wie das der Klagemauer, aber beinahe alle vermitteln mir die Distanz des Fotografen zu seinem Motiv.
Und doch gibt es Ausnahmen: Einige Bilder zeigen auch Urlauber und Besucher antiker Stätten scharf abgebildet. Diese Bilder sind also nicht aus Langzeitbelichtungen entstanden. Diese Bilder, soferne die Menschen nicht nur kleine, anonyme Statisten sind, wirken sofort – natürlich – belebter. Fahl bleiben hingegen die Farben nach wie vor – und viele Bilder zeigen einen weißen Himmel.

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