Abstrakte Fotografie?

Nun sind wir von einer anderen Seite her beim Thema angelangt. Auf den ersten Blick wirkt Feiningers Zugang zur Abstraktion – vergleicht man ihn mit der fast zwingenden Hinführung Kandinskys – unglaublich trivial. Dennoch sollte man Andreas Feininger nicht vorschnell als ignorant abtun. Zunächst bedient er eine andere Zielgruppe als Kandinsky. Die Schüler der „freien Malklasse“ im Bauhaus hatten die Hoffnung, Künstler zu sein oder es zumindest werden zu können. Feiningers Klientel gab sich solchen Illusionen vermutlich nicht hin. Es handelte sich wohl zum Großteil um Amateurfotografen, die wissen wollten, wie sie bessere Bilder machen könnten. Wahrscheinlich erhofften sie sich vor allem eine klare Anleitung dazu, ähnlich klar, wie sie sie schon in anderen Büchern Feiningers gefunden hatten – nämlich hinsichtlich der technischen Ausführung von Fotos. Sinn für eine „innere Notwendigkeit“ durfte der Autor von seiner Leserschaft vermutlich nicht erwarten.
Betrachtet man aber die Tatsache, dass Feininger Abstraktion nur durch „gute Komposition“ rechtfertigt, dann findet man schon eine gewisse Annäherung an die Position Kandinskys, wenn man berücksichtigt, dass Feiningers Ausdruckart – und wohl auch sein Wesen – von deutlich mehr Realitätssinn und Sachlichkeit geprägt sind als Kandinskys entsprechende Eigenschaften. Auch für Kandinsky sind abstrakte Formen Bildelemente, deren Klang sich dem Gesamtklang der Komposition unterordnen muss.
Während uns aber Kandinsky – aus der Position des Künstlers – durch die „innere Notwendigkeit“ beinahe schon zwangsläufig zur Abstraktion führt, bleibt diese für Feininger eine Option – nichts weiter.
Feininger war ein guter Lehrer und ein ausgezeichneter Fotograf. Daran kann kein Zweifel bestehen, aber er war – so stellt sich die Situation mir dar – kein Künstler. Ganz sicher hatte er auch Sinn für Harmonie und Ausgewogenheit, ebenso wie für Ausdruckskraft, aber wahrscheinlich fehlte ihm das Beinahe-Zwanghafte, das einen Künstler antreibt. Bei allem, was er anfing, war er auch mit Hingabe und Begeisterung dabei, aber immer ließ er seinem Intellekt auch Raum zum Mitentscheiden und überließ sich wohl niemals bloß dem Gefühl.

Für mich ist die Fotografie ein Spiegel des Lebens, und jedes Foto, das des Anschauens überhaupt wert sein soll, muss eine Spiegelung des Lebens sein – der Wirklichkeit des Menschen und seiner Tätigkeit, von der Kunst bis zum Krieg. Ich habe kein Bedürfnis für „Kunstfotos“ oder für gestellte, posierende, verlogene Bilder. Meine Einstellung ist eher intellektuell als emotionell und ich fühle mich mehr der Anschauungsweise des Wissenschaftlers als der des Künstlers verbunden. Infolgedessen halte ich Tatsachen für wichtiger als Gefühle, und Klarheit der Darstellung ist eine der Haupteigenschaften aller meiner Bilder. Gelegentlich hat man mich – zu Unrecht, wie ich meine – als gefühllosen, kalten Gehirnmenschen kritisiert.
Was immer meine Fehler sein mögen – ich habe gelernt, mich mit ihnen abzufinden, denn aus eigener Erfahrung weiß ich inzwischen, dass man die Grundzüge des Charakters nicht ändern kann. Statt dessen versuche ich, das Beste aus meiner Art zu machen, meine Art in meinen Bildern so genau wie möglich auszudrücken und meine Kamera dazu zu benutzen, meinen Mitmenschen neue Einblicke in einige der vielen, unendlich wandelbaren Aspekte unserer Welt zu geben.

Andreas Feininger: Die neue Fotolehre

Feininger dürfte mit dieser Selbsteinschätzung zu hart mit sich selbst ins Gericht gehen. Keineswegs geht ihm Kunstsinn ab, wie er vielleicht andeutet, aber sein Zugang dazu ist eher intellektuell. Und das bedeutet nicht, dass er den emotionalen Zugang Kandinskys nicht verstehen könne – verstehen, aber wohl nicht nachempfinden. Mir ist nicht bekannt, ob Feininger Kandinskys Schrift gelesen hat. Dass sie jedoch völlig unbemerkt an ihm vorübergerauscht sein könnte, ist schon aus Feiningers Biografie her sehr unwahrscheinlich. Er ist 1906 in Paris als erstes Kind des Malers Lyonel Feininger geboren und verbrachte seine Kindheit und Jugend (1914 bis 1932) in Deutschland, wo sein Vater am Bauhaus eine Lehrverpflichtung übernommen hatte. Andreas selbst absolvierte am Bauhaus eine Ausbildung zum Kunsttischler. Nachdem dort auch Lyonel Feininger zusammen mit Kandinsky (und Paul Klee und Alexei von Jawlensky) die Ausstellungsgemeinschaft Die Blaue Vier gegründet hatte, scheint es sehr wahrscheinlich, dass auch Andreas über Kandinskys Wirken recht gut im Bilde war und nicht zuletzt durch seinen Vater mit der damaligen Kunstszene in enger Verbindung stand.

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