Abstrakte Fotografie?

So tritt in der Kunst allmählich immer näher in den Vordergrund das Element des Abstrakten, welches gestern noch schüchtern und kaum sichtbar sich hinter die rein materiellen Bestrebungen versteckte.
Und dieses Wachsen und schließlich Überwiegen des Abstrakten ist natürlich.
Es ist natürlich, da, je mehr die organische Form zurückgetrieben wird, desto mehr dieses Abstrakte von selbst in den Vordergrund tritt und an Klang gewinnt.

Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst

Es ist sehr spannend, im Lesen Kandinskys Überlegungen nachzuvollziehen, obwohl er sich einer manchmal sehr blumigen Ausdrucksweise bedient, die er wahrscheinlich aus seiner russischen Muttersprache schöpft. Es ist auch nicht immer leicht, sich in das hineinzudenken, was einen Künstler antreibt. Er ist seinem Werk, seiner Kunst verpflichtet und sonst nichts und niemandem. Für ihn gilt keine Regel, die von außen an ihn herangetragen wird. Dennoch arbeitet er nicht regellos. Er selbst gibt sich die Regel, welche ihm nur die innere Notwendigkeit diktiert.
Doch üblicherweise ist sich der Künstler dessen kaum oder gar nicht bewusst. Er folgt einfach seinem Antrieb. Umso erstaunlicher ist, dass es Kandinsky, der ja selbst auch Künstler ist, es schafft, diesen Antrieb auch analytisch zu betrachten und so zu beschreiben, dass es auch ein Nicht-Künstler bei einigem guten Willen verstehen kann. Allerdings glänzt meine Darstellung hier – notgedrungen – vor allem durch Auslassungen.

Exkurs: Kandinsky und das dritte Element

Obwohl wir schon an dem Punkt angekommen sind, auf welchen wir zugesteuert haben – die Antwort auf die Frage, warum abstrakt gemalt wird – bleiben wir noch einen Moment bei Kandinsky und folgen ihm weiter in seinen Überlegungen, die nun das Wesen der Kunst beleuchten.
Die innere Notwendigkeit, so schreibt er, entsteht aus „drei mystischen Gründen“: Der Künstler bringt sich selbst – ob er will oder nicht – in sein Werk ein. Das ist das Element der Persönlichkeit. Ferner ist jeder Künstler Kind seiner Epoche. Auch dieser Umstand fließt in das Werk ein als Element des Zeitstils. Schließlich ist der Künstler auch Ausübender der „Kunst an sich“, eines Aspekts, der unabhängig von Person, Nation, Epoche und Zeitstil besteht. Kandinky nennt es das Element des Rein- und Ewig-Künstlerischen.
Im Kunstwerk werden die Zeitgenossen vor allem die ersten beiden Aspekte wahrnehmen. Damit können sie das Werk einem Künstler und einem Stil zuordnen.

Man muss nur diese zwei ersten Elemente mit dem geistigen Auge durchdringen, um dieses dritte Element bloßgelegt zu sehen. Dann sieht man, dass eine „grob“ geschnitzte Indianertempel-Säule vollkommen durch dieselbe Seele belebt ist, wie ein noch so „modernes“ lebendiges Werk.

Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst

Je mehr ein Werk von den ersten beiden Elementen hat, desto leichter werden es die Zeitgenossen verstehen. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte verliert die Persönlichkeit des Künstlers an Bedeutung, ebenso wie sich der Zeitstil überholt. Diese Elemente sind dann kaum noch lebendig. Was jedoch ewig bleibt, ist das Element des Rein- und Ewig-Künstlerischen.

Und weiter: je mehr das dritte Element im heutigen Werk vorhanden ist, desto mehr werden die ersten zwei übertönt und dadurch der Zugang zur Seele des Zeitgenossen erschwert. Deshalb müssen manchmal Jahrhunderte vergehen, bis der Klang des dritten Elementes zur Seele der Menschen gelangen kann.
So ist das Überwiegen dieses dritten Elementes im Werk das Zeichen seiner Größe und der Größe des Künstlers.

Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst

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